Ein grelles Licht blendet Ilay durch seine geschlossenen Lider hindurch und bunte Lichter tanzen vor seinen Augen. Sein Körper fühlt sich steif an und hinter seinen Schläfen pocht ein quälender Schmerz, als würde jemand das Gehirn mit einem Hammer bearbeiten.
Was zur Hölle ist passiert? Wie Bruchstücke eines Films flimmern Bilder durch seinen Kopf. Er auf seinem Motorrad. Die rasante Fahrt. Die rutschige Straße. Der LKW. Ein Krachen, Splittern. Und dann - nichts. Nur die vertraute, immer wiederkehrende Dunkelheit des Todes.
Enttäuschung macht sich in ihm breit, wie so oft, wenn er wieder ins Leben zurückkehrt. Sie nagt an ihm, quält ihn und versetzt ihm jedes Mal wieder einen Stich.
Es ist nicht so, dass ihm sein Leben nicht gefällt. Zumindest momentan tut es das durchaus. Aber nach all dieser Zeit, nach all den Verlusten, der Trauer und den langen Phasen der Einsamkeit, hofft etwas in ihm jedes Mal, dass es vorbei ist und er endlich Ruhe finden kann. Aber anscheinend ist es noch nicht so weit. Wieder einmal.
Bittere Galle steigt seine Kehle hinauf, sein Magen verkrampft sich und rebelliert. Mühsam kämpft er gegen das Erbrechen an und schluckt.
Er hasst das. Warum immer diese dämliche Übelkeit? Missmutig wendet er seine Aufmerksamkeit seinem Körper zu, konzentriert sich auf das Gefühl in den Gliedmaßen, den regelmäßigen Schlägen seines Herzens und die Muskeln, die sich langsam entspannen. So weit, so gut.
Er liegt auf etwas Hartem, Kühlem. Metall. Auf seiner nackten Haut spürt er die Berührung von glattem Stoff. Die Luft ist erfüllt von dem Geruch nach Desinfektionsmittel, Seife und dem süß-säuerlichen Aroma des Todes.
Schöne Scheiße.
Ein Telefon klingelt. Kurz darauf nähern sich ihm Schritte und die lauter werdende Stimme einer Frau. Sie klingt genervt. »Wer ruft denn bitte um diese Uhrzeit hier an? Jetzt mach ich schon extra die Nachtschicht, um meine Ruhe zu haben und dann wird man trotzdem gestört!«
Es klingelt erneut, dann ertönt ein Klicken, als der Hörer abgenommen wird.
»Pathologie Northside Hospital, Doktor Sophie Montgomery.«
Dem Klang nach muss sie ganz in seiner Nähe sein.
Kurze Stille.
»Kann das nicht bis morgen warten?«
Ilay dreht den Kopf und blinzelt. Sachte zupft er an dem Laken und zieht es so weit hinunter, dass es seinen Kopf frei gibt.
Das grelle Licht der Lampe direkt über ihm treibt ihm die Tränen in die Augen und seine Sicht verschwimmt für einen Moment, bis seine Augen sich angepasst haben. Sein Verdacht bestätigt sich. Er liegt auf einem der Metalltische in einem Sektionssaal.
Ein paar Meter von ihm entfernt steht eine kräftige Frau mit braunen, leicht gelockten Haaren, den Rücken ihm zugewandt. Sie trägt einen weißen Kittel und presst sich einen Telefonhörer gegen das Ohr, das geringelte Kabel um einen Finger gewickelt.
Perfekt. Einfach perfekt.
»Nein, Sie können das jetzt nicht ausfüllen! Kommen Sie morgen früh vorbei und melden Sie sich am Empfang. Ich muss jetzt weiterarbeiten. Meine Leiche wartet nicht ewig auf mich!«
Knallend landet der Hörer wieder auf der Gabel.
»Das darf doch nicht wahr sein! Die Leute werden auch immer dreister. Wenigstens du machst mir keinen Ärg-«
Im Sprechen dreht sie sich um und erstarrt. Ihre Augen hinter den Brillengläsern weiten sich und ihr Mund bildet ein O.
Mist. Mist. Mist. Was jetzt? Davonschleichen ist nicht mehr. Ilay presst die Lippen zusammen, setzt sich auf und schwingt die Beine über die Kante, so dass seine Füße über dem Boden baumeln. Bevor er es festhalten kann, rutscht das weiße Laken an seinen Beinen herab und gleitet zu Boden. Egal. Berufsbedingt sieht die Gerichtsmedizinerin bestimmt dauernd nackte Leute. Das wird vermutlich nicht der Grund sein, warum sie ihn anstarrt, als hätte sie einen Geist gesehen. Liegt wohl eher daran, dass er nicht mehr ganz so tot ist.
Erneut überfällt ihn eine Welle der Übelkeit. Dieses Mal lässt sie sich nicht aufhalten. Stöhnend presst er sich den Unterarm gegen den krampfenden Bauch und beugt sich vor, während ihm sein Mageninhalt die Kehle hinaufschießt. Mit einem Platschen ergießt er sich auf den weiß gekachelten Boden und verfehlt nur knapp das Laken.
Ächzend wischt Ilay sich mit dem Handrücken über den Mund. Der Geschmack ist widerlich. Säuerlich und bitter.
»Das ... ist mir jetzt irgendwie peinlich und unangenehm.« Ilay räuspert sich.
Verlegen reibt er sich mit der anderen Hand über den Nacken und verzieht das Gesicht zu einem kläglichen Lächeln. Das ist der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.
Der gellende Schrei der Pathologin zerreißt die Luft. Durchdringend klingelt er in Ilays Ohren und fügt dem dumpfen Pochen in seinem Schädel ein Stechen hinzu.
Sie fährt herum, stößt gegen einen Tisch und tastet sich zitternd daran vorbei. Stolpernd und nach Luft schnappend stürzt sie zur Tür.
»Scheiße, verdammt!«, stößt er knurrend aus.
Leise vor sich her fluchend rutscht Ilay von dem Tisch. Warum müssen die Leute immer weglaufen?
Seine Zehen berühren etwas Warmes, Schmieriges und er erschauert. Die Schultern nach oben gezogen sieht er nach unten. Sein Erbrochenes. Sind das da Bröckchen? Was zur Hölle hat er zuletzt gegessen? Egal. Die Pathologietante darf nicht den Raum verlassen.
Mit einem gewaltigen Sprung setzt er über einen Edelstahltisch hinweg und gleitet geschmeidig an ihr vorbei. Entschlossen wirft er sich zwischen sie und die Tür, die Arme weit ausgebreitet. Fest hält er den Blick auf ihre Züge gerichtet, nach Kräften bemüht harmlos zu wirken. Es hilft, dass sie einen halben Kopf größer ist als er. Manchmal ist es auch ein Vorteil, eine halbe Portion zu sein.
»Stopp. Bitte. Ich will dir nichts tun, wirklich. Aber ich kann dich so auch nicht gehen lassen.« Beschwichtigend hebt er die Hände und lächelt. Beruhigend, wie er hofft.
Die Pathologin keucht auf und weicht zurück, die Augen hinter der dicken Brille weit aufgerissen. »Was- das- ich- Nein«, stottert sie und schüttelt entsetzt den Kopf. Langsam und ohne den Blick von ihm abzuwenden, weicht sie zurück. »Was passiert hier?«
Ilay blinzelt und überdenkt rasch seine Worte. Ups.
»Also, ich will dich schon gehen lassen, keine Angst.«
Er seufzt.
»Ach verdammt, das wäre so viel einfacher, wenn ich dein Gedächtnis löschen könnte!«
Die Stirn gerunzelt hält er inne und verzieht das Gesicht. »Mist. Nein, natürlich will ich das nicht, also schon, aber nur damit ich dich nicht umbringen muss.«
Nope. Auch nicht besser.
Entgeistert starrt sie ihn an.
Warum schmerzt sein Kopf so höllisch? Außerdem fällt es ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Es fühlt sich an, als wäre sein Gehirn in Watte gepackt.
»Ich will dich nicht umbringen. Ich will reden, okay? Nur reden. Bitte! Ich bin noch nicht wieder ganz klar. Manchmal ist alles so verwirrend, wenn ich wieder aufwache. Vor allem wenn der Kopf etwas abbekommen hat. Der braucht etwas länger, um sich zu erholen.« Seine Stimme klingt flehend.
Ja, das war besser. Reden ist gut, oder?
Sie schluckt trocken, während sich ihr Brustkorb panisch hebt und senkt. »Was ... Wa- was redest du zum Teufel? Ge- Gedächtnis a- auslöschen, umbringen ... was meinst du damit? Was willst du von mir?«
»Nein. Eben nicht. Ich-«, stammelt Ilay auf der Suche nach den richtigen Worten. Verdammte Scheiße. Das läuft ja super. Er ist wirklich in Höchstform. Nicht.
»Du ... du ... das KANN NICHT sein. Du kannst nicht lebendig sein. Ich habe die ... deine ... Leiche in Empfang genommen. D- Dein Schädel ... dein Gehirn«, zählt sie von Sekunde zu Sekunde verwirrter auf. Ihre Stimme bricht und sie schlägt die zitternden Hände vor das Gesicht.
Ah, darum diese Kopfschmerzen. Sein Gehirn war Matsch. Das verursacht manchmal diese Nebenwirkungen, neben gelegentlichen Erinnerungslücken und Verwirrung.
Langsam und vorsichtig tritt er auf die Gerichtsmedizinerin zu und sieht zu ihr hinauf. Das ist einer der Nachteile eine halbe Portion zu sein. Dauernd muss er zu Leuten hinaufblicken.
»Sophie, oder?«
Zumindest hatte sie sich vorhin am Telefon so vorgestellt.
Sie nickt schwach und senkt langsam die bebenden Hände. Die Augen hinter den Brillengläsern sind groß wie Untertassen und schimmern feucht. Sie wirkt wie ein panisches Reh im Scheinwerferlicht.
»Können wir uns nicht irgendwo hinsetzen, gemütlich einen Kaffee trinken, etwas essen und uns unterhalten? Ich verspreche dir, ich erkläre alles, so gut ich kann.« Ilay bemüht sich darum ruhig zu sprechen, um ihr nicht noch mehr Angst zu machen.
Sophie kneift die Augen zusammen und beißt sich auf die Unterlippe. Sie bebt noch immer am ganzen Leib und atmet hektisch. Schließlich geht ein Ruck durch ihren Körper und sie strafft die Schultern. Entschlossen rückt sie ihre Brille zurecht und lässt den Blick über ihn gleiten. Tief atmet sie durch, bückt sich nach dem Laken und reicht es Ilay.
»Könntest du das bitte umlegen? Ich muss das-«, sie wedelt mit der Hand in Richtung seines Schritts, »nicht die ganze Zeit vor meinen Augen baumeln haben.«
Ilay nimmt das Laken und sieht an sich hinunter. Sieht normal aus. Alles da, wo es hingehört. Aber okay, wenn sie sich dann wohler fühlt. Schulterzuckend wickelt er sich den Stoff um die Hüften. »Besser? Vorhin war es doch auch kein Problem.«
Sie nickt und atmet zitternd ein.
Gut. Sie scheint bereit zu sein, sich mit den veränderten Tatsachen auseinanderzusetzen. Aber er spürt ihre Panik und Hysterie, die noch immer unter der Oberfläche lauern und jederzeit wieder ausbrechen können.
»Vorhin warst du auch noch tot!«, entgegnet sie empört und ihre Wangen färben sich rot. Süß.
»Also magst du das Gebaumel nur bei Toten? Aber nicht bei Lebenden? Schräg, aber jeder hat einen anderen Geschmack.« Ilay neigt den Kopf zur Seite und mustert sie prüfend.
»Nein! So meine ich das nicht!«, wehrt sie ab. Jetzt glühen auch noch ihre Ohren.
»Also magst du grundsätzlich kein Gebaumel? Ist auch kein Ding, jedem das Seine. Ich mag zum Beispiel Gebaumel. Bevorzugt Lebendes und an einem Körper befestigt.«
»Doch. Argh!« Sophie rauft sich die braunen Locken. »Stopp. Mein Kopf explodiert gleich!«
Sie spreizt mit einer ruckartigen Geste die Finger und streckt die Arme aus, um ihre Worte zu unterstreichen. »Das ist mit Abstand das verrückteste Gespräch, das ich je geführt habe. Und das hat etwas zu bedeuten. Das kannst du mir glauben!«
Ilay schmunzelt und massiert sich mit einer Hand den steifen Nacken. Prüfend mustert er sie.
»Du siehst jetzt nicht mehr so aus, als ob du gleich schreiend wegrennen würdest. Fühlst du dich besser?«
Sophie blinzelt und starrt ihn an, senkt dann den Blick auf ihre Hände. Sie zittern nicht mehr so stark. Nickend atmet sie tief durch und rückt die Brille zurecht. »Ja. Besser. Und jetzt?«
»Ich weiß nicht, was du vorhast, aber ich will jetzt etwas essen und trinken.« Suchend sieht er sich um und steuert eine Tür an, die so aussieht, als ob sie in den Aufenthaltsraum führen könnte. Er öffnet sie und sieht hinein. Jackpot! Ein großer Tisch, Stühle, Küchenzeile mit Kühlschrank und in einer Ecke sterben ein paar Pflanzen vor sich hin.